Ingrid Lenders
Als ich am 03. Januar 1951 in Freiberg zu Sachsen geboren wurde, herrschte tiefster Winter. Es war so kalt, dass ich aus Protest lauthals losschrie. Und obwohl meine Mutter ihrer katholischen Schwiegermutter geschworen hatte mich katholisch taufen zu lassen, war sie nun der Meinung: „Wer so laut schreit, der muss „Protestantisch“ werden. Und protestiert habe ich im Laufe meines Lebens heftig.
Ich bin schon als Kleinkind gerne gereist. Mit 2 Jahren nahm ich den wöchentlichen Pendelverkehr zu meinen Großeltern nach Schneeberg in Kauf. Somit war ich für meinen späteren beruflichen Lebensweg bestens vorbereitet. Als stramme 2-Jährige, die mit beiden Beinchen fest auf der Erde steht, präsentiere ich mich hier mit meiner berühmten Hahnenkammrolle, die der Nachwelt unbedingt erhalten bleiben muss!
Nachdem der konfessionelle Kindergarten in Freiberg geschlossen wurde und der real existierende Sozialismus immer mehr in den Vordergrund drängte (der mich zu diesem Zeitraum aber noch recht wenig störte), verschlug es mich 1957 in den „Goldenen Westen“. Neben Heimat- und Familienverlust musste ich nun auch noch den Verlust meiner „tollen Rolle“ hinnehmen und entwickelte mich zu einem „echten Westdeutschen“ Mädchen! Meine 8-jährige Schulzeit in der evangelischen Volksschule zu Kaldenhausen brachte ich mit Bravour hinter mich, und sie endete mit meiner Konfirmation.
Als älteste Tochter einer kinderreichen Familie war es mir leider nicht vergönnt einen anderen Berufsweg einzuschlagen, und so erlernte ich den Beruf der technischen Zeichnerin, der sich später aber hin zum bürokratischen entwickelte und ich später einen Schreibtischjob an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW (heute HSPV NRW) in Duisburg-Großenbaum hatte, der mir sehr viel Spaß machte.
Nach meiner Heirat und der Geburt meiner Tochter schlief das Hobby Schreiben ein wenig ein und wurde erst durch den Arbeitskampf 1987 um das Krupp-Hüttenwerk wieder aktiviert. Die Anthologie „Der Hochofen vor unserem Fenster“ war nach meiner ersten Veröffentlichung einer Kindergeschichte im Jahr 1964 in der WAZ der Durchbruch zu einer neuen Schreibära, der andere Bücher und Veröffentlichungen sowie viele Lesungen folgten.
Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich Kaleidoskop ähnlich die Stationen meines Lebens: Leichte und weniger leichte Jahre. Jahre, geprägt von Menschen, deren Wege sich mit den meinen kreuzten. Den wir gemeinsam ein Stück gingen, uns wieder trennten und die dazu beitrugen, dass ich der Mensch bin, der ich heute bin.
Am stärksten prägte mich aber der Arbeitskampf um das Krupp-Hüttenwerk 1987 / 1988. 160 Tage und Nächte kämpften wir vehement um den Erhalt der Arbeitsplätze. Ich gehörte zu den ersten Frauen, die sich am 03. Dezember 1987 in der Krupp’schen Menage in die Liste eintrugen, um in der Fraueninitiative diesen Arbeitskampf zu unterstützen. Wir Frauen wollten an der Seite der Männer mitkämpfen, wir wollten den Männern Halt, Kraft und Mut geben, um durchzuhalten.
Das beeindruckendste Erlebnis war der Walzwerksgottesdienst in der großen Werkshalle. 25.000 Menschen kamen zusammen und feierten den „Brot und Rosen“ Gottesdienst. Vorher gab es den gewaltigen Fackelzug durch Rheinhausen. Diese Bilder werde ich nie vergessen. Meine Rose von damals habe ich noch. Sie ist in einem Bilderrahmen und hängt an der Wand im Flur.
In diesem Arbeitskampf wurde ich erst richtig erwachsen.
Nachdem der Kampf im Mai 1988 leider verloren war, und wir lediglich eine 5 Jahres- Frist erhielten, gründeten wir den Verein „Leben und Arbeiten in Rheinhausen“, um die Kräfte, die wir entwickelt hatten, nicht im Sande verlaufen zu lassen. Im Gegenteil, wir bündelten unsere Kräfte und waren weiter für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt da. Ich war in der Frauengruppe aktiv, gründete eine Mutter-Kind-Gruppe, schrieb an der vereinseigenen „Zeitung“ mit. Sogar im Chor Tor 1 ließ ich zeitweise meine Stimme erschallen. Die letzten Jahre agierte ich als 2. Vorsitzende und war die Ansprechpartnerin der gegründeten Geschichtswerkstatt, die die Geschichte „von unten“ der Kruppianer und der Zwangsarbeiter aufarbeitete.
Mit meinem Kollegen Peter Flore (Fotos) dokumentierte ich (Texte) in einem Bildband den Arbeitskampf, der uns einen Anerkennungspreis des Wettbewerbs Industriegeschichte an Emscher und Ruhr einbrachte.
Nachdem viele Jahre vergangen und der Arbeitskampf auch der Verein Vergangenheit waren, versuchte ich mit meinem Kollegen Jürgen Tholl in Zusammenarbeit mit der VHS Arbeitsstelle Duisburg-West die Geschichte der Nachwelt zu erhalten und den Jüngeren näher zu bringen. Wir machten Fotoausstellungen in der Bibliothek, Lesungen, hielten Vorträge über die Krupp Siedlung, der Margarethensiedlung, die Denkmalbereich ist. Doch Corona stoppe unsere ganzen Bemühungen.
Inzwischen bin ich 70 Jahre alt, noch immer voller Ideen, voller Pläne. Für mein Engagement für unsere Stadt und für den kulturellen Bereich wurde mir der „Rheinland Taler“ verliehen, und auch die Ehrenplakette der Stadt Duisburg. Auch erhielt ich mehrere Karnevalsorden. Der Freundeskreis lebendige Grafschaft verlieh mir den „Friemersheimer Hahn“. Über alle Auszeichnungen habe ich mich sehr gefreut. Das zeigt, dass bürgerliches Engagement gesehen und gewürdigt wird. Nun beginnt ein neues Projekt: Geschichtenretter. Ich freue mich sehr, dabei zu sein.
Wir sehen uns, bleiben Sie gesund.