Geschichtenretterin Ingrid Lenders
Heute 70 Jahre alt, kam Ingrid Lenders mit 6 Jahren gemeinsam mit ihren Eltern aus Freiberg zu Sachsen nach Rumeln-Kaldenhausen und wuchs hier bei uns im Westen als ältestes von sieben Kindern bei ihrer Familie auf. Nach dem Besuch der evangelischen Volksschule zu Kaldenhausen, ihrer Konfirmation und einer Ausbildung zur technischen Zeichnerin, hat sie die letzten Jahre ihrer Berufstätigkeit an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW (heute HSPV NRW) in Duisburg-Großenbaum gearbeitet. Während des Arbeitskampfes war Ingrid Lenders Mutter einer Tochter und Tagespflegemutter und arbeitete an 3 Tagen in der Woche abends in einem Großhandel.
1973 lernte sie ihren Mann kennen, einen Kruppianer, den sie sehr schnell, nämlich schon im April 1974 heiratete. Obwohl… Frau Lenders erzählte uns, dass man damals eigentlich nur die Arbeiter, die in der eigentlichen Stahlproduktion und über Jahre hinweg in der gleichen Schicht gearbeitet haben, Kruppianer nannte. Ihr Mann hat eine vierjährige Ausbildung zum Werkstoffprüfer bei Krupp gemacht und gehörte somit nicht zu den Arbeitern in der Produktion. Bis er am 19. Mai 1988 sein Versetzungsschreiben nach Bochum erhielt (welches das Datum 16. Mai 1988 trug), hat er in der Versuchsanstalt von Krupp Rheinhausen gearbeitet. Aus unserer Sicht heute, würden wir ihn dennoch einen Kruppianer nennen.
“Am stärksten prägte mich der Arbeitskampf um das Krupp-Hüttenwerk 1987 / 1988. 160 Tage und Nächte kämpften wir vehement um den Erhalt der Arbeitsplätze. Ich gehörte zu den ersten Frauen, die sich am 03. Dezember 1987 in der Krupp’schen Menage (die Kantine von Krupp) in die Liste eingetragen haben, um in der Fraueninitiative diesen Arbeitskampf zu unterstützen. Wir Frauen wollten an der Seite der Männer mitkämpfen, wir wollten den Männern Halt, Kraft und Mut geben, um durchzuhalten. Das beeindruckendste Erlebnis war der Walzwerksgottesdienst in der großen Werkshalle. 25.000 Menschen kamen zusammen und feierten den „Brot und Rosen“ Gottesdienst. Vorher gab es den gewaltigen Fackelzug durch Rheinhausen. Diese Bilder werde ich nie vergessen.”
Dieser Gottesdienst ist Ingrid Lenders ganz besonders in Erinnerung geblieben, unter anderem auch weil Norbert Blüm, der damalige Arbeitsminister, plötzlich dort in der Werkshalle erschien und mit Pfiffen und empörten Zwischenrufen empfangen wurde. Die Kruppianer waren sehr aufgebracht und die Situation drohte zu eskalieren, erinnert sich Frau Lenders. In diesem Moment hat die Musikerin Fasia Jansen, die die Fraueninitiative während des Arbeitskampfes musikalisch unterstützte und auch den Gottesdienst entsprechend musikalisch begleitete, angefangen eines ihrer Lieder anzustimmen, erzählt sie. Die Frauen der Initiative stimmten ein und nach und nach auch die Männer und gemeinsam sangen alle:
Keiner schiebt uns weg!
Keiner,ja keiner schiebt uns weg.
Keiner, ja keiner schiebt uns weg.
So, wie ein Baum beständig steht im Wasser.
Keiner schiebt uns weg.
Die Hütte bleibt bestehen.
Keiner schiebt uns weg.
Der Cromme, der muß gehen.
Keiner schiebt uns weg.
Die Solidarität geht immer weiter.
Keiner schiebt uns weg.
Denk Norbert an die Wahlen.
Keiner schiebt uns weg.
Der Bund der muss bezahlen.
Keiner schiebt uns weg.
Die Solidarität geht immer weiter.
Keiner schiebt uns weg.
Wir sind die Hüttenfrauen.
Keiner schiebt uns weg.
Auf uns da könnt ihr bauen.
Keiner schiebt uns weg.
Die Solidarität geht immer weiter.
Keiner schiebt uns weg.
Auf Youtube haben wir eine Version dieses besonderen Liedes gefunden, die Euch einen Eindruck gibt, wie sich das damals angehört hat: https://www.youtube.com/watch?v=zjbI3iBaP5E
So gelang es den Frauen, die Wogen wieder zu glätten erzählt uns Frau Lenders.
“Meine Rose von damals habe ich noch. Sie ist in einem Bilderrahmen und hängt an der Wand im Flur.”
Dieses Lied, das damals angestimmt wurde, um die Situation zu deeskalieren, hat den gesamten Arbeitskampf begleitet und es wurden, je nach Aktionen der Kruppianer und Reaktionen aus der Geschäftsführung oder der Politik von den Frauen aus der Fraueninitiative um weitere Strophen ergänzt. Die Initiative traf sich jeden Dienstag in der Menage. Es gab einen Kern von ca. 50 Frauen, die gemeinsam ganz gezielt weitere Aktionen geplante haben. Im Gegensatz zu den Männern, die manchmal einfach drauf losgezogen sind, sind die Frauen etwas strategischer und gezielter in der Planung ihrer Aktionen vorgegangen, berichtet uns Frau Lenders.
Frau Lenders wohnt heute noch, seit mittlerweile 35 Jahren mit ihrem Mann in der Margarethen Siedlung, die einst Friedrich Krupp für seine Arbeiter erbauen ließ. Für sie ist die Margarethensiedlung das Herzstück von Rheinhausen Hochemmerich. Die Siedlung wurde nach englischem Vorbild mit Gartenstadt-Charakter in 5 Bauabschnitten erbaut. Die Margarethensiedlung steht exemplarisch für Vieles, das Friedrich Krupp für seine Arbeiter in Rheinhausen erschaffen hat. Da gab es beispielsweise einen Betriebsarzt oder einen Friseur auf dem Firmengelände. Lebensmittel kaufte man in Rheinhausen im “Konsum”. Badehäuser, Waschhäuser und das “Bertha Krankenhaus” wurden von Friedrich Krupp für seine Arbeiter errichtet. Wenn Frau Lenders in ihrem Haus aus dem Fenster schaute, hatte sie einen direkten Blick auf den Hochofen.
“Als der Hochofen gesprengt wurde, wurden die Kruppianer mitten ins Herzen getroffen.“
Am 01.05.2021 wurde auf WDR5 ein Interview mit Ingrid Lenders veröffentlicht, das wir Euch nur empfehlen können, wenn Ihr Frau Lenders persönlich erzählen hören möchtet: